Gedanken zur Runenmagie
von Coron dem Weißen, verfaßt zu Beginn des Jahres 998 nach der Zeitrechnung der Herren des Westens, genannt das Jahr des azuren Demagogen.
1. Was sind Runen?
Eine Rune ist ein Zeichen, das mittels des Gesichtssinnes – also optisch, wie wir das nennen – wahrgenommen werden kann, und das eine bestimmte Bedeutung, einen Sinngehalt in sich trägt, der von einem Betrachter mit hinreichenden Geisteskräften und Kenntnissen wahrgenommen und gedeutet werden kann.
Wir wollen hier weiterhin einschränkend annehmen, daß Runen eine flächenhafte Ausdehnung haben, also in einer der drei Raumrichtungen verschwindend gering ausgedehnt (mit anderen Worten: flach) sind. Dies trägt der Tatsache Rechnung, daß die optische Wahrnehmungsfähigkeit im wesentlichen ebenfalls flächenhaft ist, indem wir nämlich nur eine zweidimensionale Projektion der uns umgebenden Welt sehen. (Wir alle wissen, daß eine flache Zeichnung diese Welt genau so wiedergeben kann, wie wir sie von einem bestimmten Punkt aus – und genau genommen mit nur einem Auge – sehen.) – Runen bzw. Zeichen können natürlich prinzipiell auch räumlich sein, doch ist die Ausdehnung in der dritten Dimension eigentlich unnötig.
Runen sind also flache Zeichen. Hieraus ergibt sich nun auch, wie die Runen physisch beschaffen sind bzw. wie sie erschaffen werden. Ein flaches Zeichen läßt sich natürlich mit Leichtigkeit auf jeder halbwegs ebenen Fläche aufbringen, nämlich durch Malen bzw. Zeichnen mit Kohle, Tinte, Kreide, Farbe, durch Ritzen, Schaben, Schneiden, Meißeln, durch Gravieren, Ziselieren, Ätzen – kurz: durch jedes aus Kunst, Malerei, Architektur, Handwerk, Schreibkunst u. bekanntes Verfahren.
Der Sinngehalt der Rune kann verschiedener Art sein. Mal muß er erlernt werden – wie bei den Buchstaben –, mal ergibt er sich intuitiv, mal aus uralten Instinkten, mal findet er sich in einer Art kollektivem Gedächtnis, in der vererbten, unbewußten Erinnerung eines Volkes oder einer Rasse.
Soviel zu den Runen im allgemeinen; kommen wir zum nächsten Punkt:
2. Was sind Runen im Sinne der Runenmagie?
Hier wollen wir zwei Fälle unterscheiden:
Zum einen findet man Runen bzw. kurze Schriftzüge als Träger bzw. Binder magischer Energie, indem das magische Wort, die Formel, die eine bestimmte Wirkung auslöst, durch Schriftzeichen dargestellt und so festgehalten wird. Runen dieser Art findet man häufig auf Waffen, auf magischen Gegenständen u., besonders aber auch auf Spruchrollen. Diese Runen sind (z.B. auf magischen Waffen) immer aktiv, oder sie werden vom Benutzer mutwillig aktiviert (z.B. bei Spruchrollen). Hier entsprechen die Runen in ihrer Funktion vollkommen der gesprochenen Formel, sie dienen allerdings außerdem noch als Speicher – ihrer dauerhafteren Natur wegen.
Zum anderen betrachten wir als "magische Runen" (die nicht unbedingt im eigentlichen Sinne verzaubert sein bzw. magische Kraft enthalten müssen) all jene Runen, die direkt – dadurch, daß sie gesehen werden – auf den Betrachter wirken. Sie beeinflussen den Betrachter in einer vom Erschaffer der Runen bewußt bestimmten Weise, indem sie sein Denken, Fühlen oder Handeln lenken. Mit diesen Runen wollen wir uns im Rahmen dieses Aufsatzes beschäftigen. Zur klaren Unterscheidung von anderen Runen nennen wir diese Form von jetzt an "Siegel".
Es gibt natürlich verschiedene Kombinationen dieser beiden Formen: So können z.B. kräftespeichernde Runen durch Blickkontakt ausgelöst werden und so einen Feuerball, einen Wahnsinnszauber o.ä. freisetzen. Andererseits können Siegel, die aufgrund ihres Aussehens wirken, durch gespeicherte Kraft unterstützt und verstärkt werden.
Wir unterscheiden also:
runa, die Rune – ein Zeichen oder Schriftzug als sozusagen dauerhafter Zauberspruch.
runa sigillisimilis, die siegelartige Rune – eine Rune, die durch Blickkontakt ausgelöst wird.
sigillum (oder sigillum simplex), das Siegel – ein Zeichen oder Bild, dessen Anblick den Betrachter in bestimmter Weise beeinflußt.
sigillum augmentatum, das verstärkte Siegel – ein Sigillum, dessen Wirksamkeit durch gespeicherte Magie erhöht wird.
sigillum extentum, das erweiterte Siegel – ein Sigillum, das neben seiner eigentlichen Wirkung einen gespeicherten Spruch enthält, der die Wirkung (indirekt) unterstützt.
runa limitata, die (zeitlich) begrenzte Runa – eine Rune von kontinuierlicher Wirksamkeit während einer gewissen, begrenzten Zeit, meist als Bestandteil bzw. Stärkung eines normalen Zaubers. Solche Runen werden oft auf den Körper des Verzauberten gemalt. (Cave: Solche Runen werden hin und wieder "Siegel" genannt – man beachte den Gegensatz zur hier gewählten, besseren und logischeren Nomenklatur.)
3. Worauf beruht die Wirkung der magischen Runen?
Diese Frage ist ganz kurz zu beantworten: Sie wirken genauso wie der entsprechende Zauber. Der Effekt ist ganz der gleiche, der Zaubervorgang unterscheidet sich im Wesentlichen nur dadurch, daß die Formel nicht ausgesprochen, sondern in Form von Schriftzeichen geschrieben, geschnitzt, geschmiedet o.ä. wird, und daß gegebenenfalls ein besonderer Zauber zur Auslösung mit eingewoben werden muß. – Dies ist nun allerdings eine Angelegenheit der Artefaktmagie und hat mit der Runenmagie eigentlich nichts mehr zu schaffen!
4. Worauf beruht die Wirkung der Siegel?
Hier stecken wir nun schon mitten in der Runen- oder besser: Siegelmagie. Die Siegel sind sichtbare Zeichen; sie werden über das Auge von jedem sehenden Wesen aufgenommen und an dessen Geist weitergegeben. Der Geist eines jeden Wesens nun gliedert sich in einen offenen, dem Wesen bewußten Teil und einen verdeckten, dem Wesen nicht bewußten. Wir alle haben sicher schon ein Bild oder eine Szenerie betrachtet und dann erlebt, daß wir uns hinterher nur an wenige Einzelheiten erinnern, andere Einzelheiten jedoch sofort wieder vor Augen haben, wenn uns jemand oder etwas daran erinnert. Die Einzelheiten (alle!) haben die unbewußte Ebene unseres Geistes erreicht, aber nur wenige davon sind direkt ins Bewußtsein vorgedrungen; andere gelangen erst später dorthin, wenn sie (wofür auch immer) gebraucht werden. Der entscheidenden Punkt ist, daß alles, was wir sehen, in unseren Geist gelangt, uns aber längst nicht alles davon bewußt wird.
Unser Bild (wohlgemerkt: die ebene Projektion unseres wie auch immer beschaffenen Siegels) befindet sich nun also im Geist, ist im Nicht-Bewußtsein unseres Opfers angelangt und kann hier seine Wirkung entfalten. Man beachte, daß es erst von hier aus an das Bewußtsein weitergegeben wird; somit ist es für jede Gegenwehr des Opfers zu spät, schnelles Abwenden oder Schließen der Augen hat keinen Sinn mehr, da das Bild schon aufgenommen wurde. Dies ist einer der Hauptvorteile des Siegels gegenüber der Rune, die in ihrer Wirkung immer etwas verzögert sein muß. (Die runa sigillisimilis wird durch den Blick aktiviert und setzt nun erst eine magische Wirkung frei, die womöglich erst noch als physische Erscheinung, z.B. als Feuerball, mit endlicher Geschwindigkeit zum Opfer gelangen muß.)
Es soll jedoch nicht unbemerkt bleiben, daß das Abwenden des Blickes durchaus dann hilft, wenn man nur einen Teil eines Siegels gesehen hat, der Rest also noch verdeckt war. Die Mehrzahl der sigilla zeigt dann keine oder eine andere, geringere Wirkung. (Anmerkung: Einzig die sigilla fractalia verhalten sich nicht so: Ein sigillum fractale enthält in jedem noch so kleinen Teil die entscheidenden Bestandteile des Gesamtbildes. Wird nur ein Teil gesehen, so ist die Wirkung in ihrer Art unverändert, allerdings von geringerer Heftigkeit.)
Kommen wir nun, da unser Bild sicher im Geiste unseres Opfers sitzt, zur Wirkungsentfaltung. Unser Bild beeinflußt den Geist und kann von dort aus alles bewirken, was der Geist selbst (oder auch: die Phantasie) bewirken kann. So kann insbesondere die Seele, in begrenztem Maße auch der Körper des Opfers beeinflußt werden. Ja, wenn das Opfer gar über magische Kräfte verfügt, so sind auch diese vom Geiste aus zu beeinflussen, was wiederum ganz neue Möglichkeiten eröffnet.
Wie wird aber nun diese Beeinflussung erreicht? Betrachten wir dazu folgendes sigillum exemplare (fig. 1):
fig. 1: sigillum simplex exemplare
Wir sehen ein sehr einfaches Symbol, bestehend aus zwei Punkten, einer geschlossenen und einer offenen Linie. Bei aller Simplizität erweckt dieses Symbol im Betrachter eine gewisse Heiterkeit, einen gewissen Zwang zum Lächeln. Diese Wirkung wird sich von Betrachter zu Betrachter unterscheiden, bei einigen mag sie völlig ausbleiben – dies zeigt uns schon den Nachteil der einfachen Siegel: Ihre Wirkung ist (nicht nur in der Stärke, sondern auch in der Art) sehr stark von dem zu beeinflussende Geiste selbst abhängig. Siegel wirken nie auf alle Personen gleich. Dies kann zwar unter Umständen nützlich sein, um bestimmte Opfer auszuwählen, doch dürfte die Komplexität und Unbestimmtheit solcher Vorgehensweise nur allzu offenkundig sein.
Die Wirkung obigen Exempels ist leicht zu erklären: Das Symbol erinnert uns an ein lächelndes Gesicht, und ebenso wie ein solches stimmt es uns in gewissem Maße selbst friedlich und fröhlich. So simpel diese Erklärung auch ist, so liegt hierin doch das Urprinzip der magica sigillorum vor uns.
Die Wirkung der Siegel entspricht weitgehend der Sinnvermittlung durch Zeichen. Die Bedeutung von Zeichen kann erlernt werden, sie kann sich intuitiv oder instinktiv ergeben, oder sie kann dem kollektiven Gedächtnis entstammen. Ein voll ausgearbeitetes Siegel besteht zumeist aus einer Vielzahl von Zeichen bzw. Symbolen; und auch Farben, Formen, Größen- und Zahlenverhältnisse, Symmetrien u. innerhalb des Siegels haben zumeist ihre Funktion und Bedeutung. Diese einzelnen Bestandteile vermitteln ihre Information nun auf verschiedenen Wegen:
– erlernte Kenntnis (Schriftzeichen u.),
– intuitive Deutung (Nachahmung von Gesten; Analogien, Bilder),
– instinktive Kenntnis (Warnfarben, Formen, Bilder),
– ererbte Kenntnis (Archetypen, Schemata).
Hier zeigt sich schon: Grundlage der Runenmagie (magica sigillorum) ist die sichere Kenntnis nicht nur der erlernbaren Zeichen, sondern auch der instinktiven bzw. ererbten Zeichenbedeutungen und der seit Urzeiten erhaltenen Archetypen, der Wirkung von Farben, Formen, Symmetrien, Zahlen u.
An dieser Stelle mag es angebracht sein, einen Überblick über ein sinnvoll gegliedertes Studium der magica sigillorum zu geben:
5. Das Studium der Runenmagie
Als erstes mache der Student sich mit den zugrunde liegenden Zeichen vertraut: Er lerne zunächst die erlernbaren Zeichen (hier steht am Anfang natürlich das Schreiben und Lesen, dann das Erlernen anderer Schriften – wer als Meister der Runenmagie gelten will, sollte eigentlich alle (sic!) menschlichen und nichtmenschlichen Schriften lesen können oder zumindest in der Lage sein, eine neue Schrift in kürzester Zeit zu erlernen). Dann studiere er die intuitiv und instinktiv erfaßbaren Zeichen, die Archetypen u. Alsdann befasse er sich mit den Zahlen, Formen, Farben u.
(Die Grundlagen hierzu vermitteln meine Vorlesungen zur Schriftkunde, Symbolkunde und Geometrie, die durchaus schon im Grundstudium gehört werden können.)
Ist der Student mit diesem Stoff hinreichend vertraut, so kann er beginnen zu erforschen, wie man mit diesem Zeichenmaterial bestimmte Wirkungen erzielt. Dazu studiere er erst ausgewählte Beispiele, erfahre deren Wirkung an sich selbst, und versuche dann, eigene Siegel zu erschaffen. Hierzu ist es erforderlich, daß der Student in den entsprechenden handwerklichen Techniken bewandert ist, denn nun muß er selbst mit Pinsel und Farbe, mit Schnitzmesser, Meißel und Stichel arbeiten. Dies zu vermitteln ist nicht unbedingt Aufgabe einer Akademie; der Student suche sich – wenn irgend möglich – einen Steinmetz, Holzschnitzer, Maler, Goldschmied oder Glasschleifer und lerne bei ihm die erforderliche Technik!
Weiterhin beschäftige sich der Student mit der Struktur des Geistes und der Seele. Er lerne, wie der Geist zu beeinflussen ist, wie sich gewisse Reflexe aktivieren lassen (es ist z.B. recht leicht, über bestimmte, häßliche Bilder einen lähmungsartigen Zustand zu erzeugen, der einer Versteinerung gleichkommt – man denke nur an die Wirkung des berühmten Medusenhauptes aus den Sagen der Alten), wie sich durch Erzeugung bestimmter Gefühle das Handeln eines Wesens mehr oder weniger vorhersagbar beeinflussen läßt u.
Nun mag der Student sich an ersten eigenen Siegeln versuchen. Je nach Veranlagung bieten sich einfache Angst-, Glücks-, Verwirrungs- oder Schlafsiegel an, die relativ schnell zu einem gewissen Erfolg führen.
(Diesen Punkt hat der Student erreicht, wenn er meine viersemestrige Vorlesungsreihe zur theoretischen Runenmagie gehört hat.)
Erst nach einer längeren Phase des Experimentierens mit solchen völlig "unmagischen" sigilla simplicia darf sich der Student dann dem Studium der magisch verstärkten und erweiterten Siegel zuwenden, die natürlich ungleich sicherer und effektiver wirken. Hier hat er nun, so er nicht nebenher schon einige Zauber gelernt hat, erstmals Kontakt mit den arkanen Kräften, mit der Magie im eigentlichen Sinn. Um Enttäuschungen vorzubeugen, sollte der Student also vor dem Studium der Runenmagie sich seines magischen Talentes vergewissern und vielleicht in einem vorausgehenden Grundstudium, das an ordentlichen Akademien ohnehin Pflicht ist, einige simple Zauber erlernen.
Ist der Student nun mit den Prinzipien der sigilla augmentata und extenta vertraut, so mag er sich Runenmagier nennen und allein oder im Austausch mit Kollegen nach weiteren Anwendungen forschen. Es sei ihm empfohlen, sich jetzt mit der Ritual- und Artefaktmagie zu beschäftigen, wodurch die Möglichkeiten der Runenmagie beträchtlich erweitert werden.
6. Einige Worte zum Abschluß
Dieser kurze Aufsatz sollte dem Leser einen Einblick in die Vielschichtigkeit der sogenannten Runenmagie geben, die oft verkannt, teils mit Ritualmagie oder Wortmagie vermengt wird (was sie nicht sollte), teils von der Artefaktmagie streng getrennt wird (was sie auch nicht sollte – die runa ist nun einmal ebensoviel wie ein an die Wand genageltes Artefakt). Die magica sigillorum, die meiner Meinung nach den Kern der eigentlichen "Runenmagie" bildet, und die im Grunde ganz ohne arkane Energien auskommt, hat weder mit Ritual-, noch mit Wort-, noch mit Artefaktmagie irgend etwas zu schaffen. (Magische Runen wiederum haben mit Wort- und mit Artefaktmagie, jedoch nichts mit Siegelmagie zu tun).
Dem angehenden Studenten, der Interesse an der Runenmagie hat, sollte gezeigt werden, was ihn erwartet; darüber hinaus soll ihm diese Schrift als ein kleiner Leitfaden dienen.
Meine hier eingeführte Nomenklatur mag für die meisten Leser ungewohnt sein. In der gegenwärtigen Praxis werden die Begriffe "Siegel" und "Rune" jedoch willkürlich durcheinandergeworfen, so daß eine klare Definition unbedingt nötig war. – Wie dem auch sei, ich rechne durchaus mit einem gewissen Widerspruch und bin bereit, diese meine Schrift gegen jeden Angreifer zu verteidigen!